Andreas Beck

Vom Lost Place zum Kindheitstraum

Kreatives MV findet Freiräume – in Neu Kaliß bei Dömitz: Ein Treffen zur „Erkundung innovativer Kooperationen zwischen Kreativunternehmen, Zukunftsgestaltern und regionaler Wirtschaft“.

Bunte Namen bedecken oft Inhalte, von denen niemand erwartet, dass sie allein schon Begeisterung hervorrufen. Adjektive erledigen den Rest. Der Marketing-geschulte Textarbeitende lässt sich so leicht nicht ködern. Obwohl es schon attraktive Worte sind, durchaus mit neugierig-machendem Kontrast: Freiraum, Zukunftslabor und Alte Papierfabrik. Aber der Reihe nach.

Es ist Freitag, der 13. Mai 2022. 13:00 Uhr, gerade noch rechtzeitig zu Programmbeginn, erreiche ich als Selbstfahrer in einem PKW die Alte Papierfabrik in der Straße des Friedens, in der Elde-Stadt Neu Kaliß. Den Namen des Ortsteils habe ich sofort wieder vergessen. Kann man sicher in den Suchmaschinen im Internet finden. Bemerkt habe ich das nur an einem Schild, dass an einer, nur einspurig befahrbaren, Eldebrücke steht. Heiddorf, sagt die Wikipedia. Und berichtet auf der Ortsseite dann auch zur Geschichte der Papierherstellung hier. Auf diese ist man bis heute stolz. Bürgermeister Burkhard Thees (FDP), 2019 ohne Gegenkandidat mit über 90 Prozent wiedergewählt, sagt später bei seinem Vortrag: „Kreativ wurde hier immer gearbeitet.“ Ein Satz, der mir in seiner Zweideutigkeit gefällt.

Ich fahre an einer unbewohnten Villa vorbei durch das Tor und parke mein Fahrzeug auf dem Lost Place – dem Teil der Alten Papierfabrik, der heute nicht zur Debatte, besser zur kreativen Bearbeitung, steht. Die Sonne scheint. Ein Zauber liegt über diesem Ort. Nicht einmal unerwartet. Schon an der einspurigen Brücke, gleich hinter der ehemaligen Wassermühle, die heute Wasserkraftwerk ist, und auch wenn man dann rechts einbiegt, in die Straße mit dem großen Namen Frieden und der einseitigen Asphaltierung einer zweigeteilten Fahrbahn, mit deutlichem Abstand voneinander, ist es zu spüren. Es ist ein gutes Gefühl.

Der OrtAlte Papierfabrik Neu Kaliß
Adresse:Straße des Friedens
19294 Neu Kaliß
In der Alten Papierfabrik Neu Kaliß entsteht auf 15000 m² Fläche ein Areal mit Ausstellungsflächen, Kultursaal, Festivalwiese, Hostel, Ateliers und Werkstätten
“Ich fahre an einer unbewohnten Villa vorbei durch das Tor und parke mein Fahrzeug auf dem Lost Place – dem Teil der Alten Papierfabrik, der heute nicht zur Debatte, besser zur kreativen Bearbeitung, steht.”
Fotos: Andreas Beck

Das 15.000 Quadratmeter große Grundstück, heute Herberge der Veranstaltung, hat gleich zur Rechten ein zweigeschossiges Gebäude. Dort treffe ich auf die verantwortlichen Organisatorinnen von KREATIVE-MV, dem Landesverband Kultur- und Kreativwirtschaft Mecklenburg-Vorpommern e. V. Corinna Hesse, Journalistin und Verlegerin und Stefanie Raab, Architektin und Stadtentwicklerin, empfangen die Ankommenden herzlich. Die gegenseitige Anreden der Frauen und Männer vor und im Gebäude schwanken zwischen dem distanzierteren Sie und dem zugewandteren Du. Anfang der 1950er Jahre, nachdem die Papierfabrik nach privatem Wideraufbau verstaatlicht worden war, wurde im VEB ganz sicher niemand gesiezt. Genossen und Kollegen haben sich geduzt. Kreative untereinander duzen sich auch.

In dieser Atmosphäre erkunde ich das Haus. Den Saal zuerst. Er ist erst kürzlich zu einem solchen geworden, erfahre ich später im Workshop. Ein Klavier steht an der Wand, daneben, einer Wohnsituation entlehnt, ein kleiner runder Tisch mit geistigen Getränken, eindeutig Dekoration. An der Fensterfront ein Sofa, neben einem großen Tisch zum Arbeiten, von Stühlen umstellt. Eine Moderationswand wartet auf ihren Einsatz. Vor der großen Leinwand gegenüber im Raum stehen ausreichend Stühle im Halbkreis. Ein langer Büfett-Tisch lädt ein, sich an Kaffee, Wasser und einem Imbiss zu bedienen. Hier ist wohl nicht nur heute das Zentrum des Areals. Hier sehe ich auch die Eigentümer zum ersten Mal.

Cora und Günter, erfahre ich nach der Veranstaltung in einem Gespräch, sind gestandene Berliner Unternehmer. Sie verleiht erfolgreich Lastenfahrräder und er saniert Altbauten. Bis jetzt immer nur für andere. Günther Oldiges, einmal hier angekommen, konnte nicht anders, als diesen Ort in Besitz zu nehmen. „Das ist für mich ein Kindheitstraum, der hier wahr wird, und den wir auch umsetzen wollen“, sagt er. Cora Geißler spricht von „schockverliebt“, als sie von dem Zufall erzählt, hier als Touristen vorbeigekommen zu sein. Beide wollen kurioserweise bei dieser Areal-Entwicklung Ruhe finden, bei einer Sanierung, bei welcher Ausstellungsflächen, ein Kultursaal, eine Festivalwiese, ein Hostel, Ateliers und Werkstätten entstehen werden. Könnte dennoch funktionieren, denke ich, wenn man den Ort Alte Papierfabrik mit seiner besonderen Lage an der Elde, mit in die Rechnung einbezieht.

Wir brechen in der Gruppe auf, zu einer Besichtigung der alten Industriegebäude. Grundsolide gebaute und – da hier mit Hochwasser gerechnet werden musste – auch wasserfest gegründete Häuser mit einem umwerfenden Lost-Place-Industrie-Charm. Im November 2021 gekauft, sind bis in diesen Mai hinein hauptsächlich Sicherungsarbeiten gelaufen. Beschädigungen durch Wind und Wetter und andere Umstände verschwinden sukzessive. Eine etwa 40-köpfige Gruppe zieht interessiert, beeindruckt und fotografierend durch das Inselgebäude, das Turmhaus, über den Fabrikhof, am Kontorhaus vorbei bis zur Villa am Eingang des ehemaligen Fabrikgeländes. Es gibt so vieles zu entdecken, Kontraste von Geschichte und Heute, von Natur und Menschgemachtem, vom Werden und Vergehen. Es riecht nach beidem. Fotomotive ohne Ende. Spätestens jetzt ist klar, warum sich Kreativwirtschaft als eine Nutzung anbietet.

Zurück im Saal des Kontorhauses beginnen die Vorträge. Sechsmal zehn Minuten sind geplant und werden mit einer Smartphone-App gestoppt. Stefanie Raab erklärt die Arbeit des Kreative MV e. V. und das heutige Programm. Viele Buzz-words sind längst Alltagssprache der Innovations- und Kreativ-Szene. Oft ist erprobtes Know-how dahinter. Manchmal neue, vielversprechende Ansätze. Für anderes scheint einfach die Zeit gekommen zu sein. Man muss davon heute hier nichts erklären, kann aber alles erfragen, wenn man es möchte. Es geht um dezentrale KreativLabs, Innovationstransfer, Speeddating, Job-Shadowing, Soziale Innovation, Co-Working Spaces und Co-Create Regions, um nur einige davon zu nennen.  

Burkhard Thees, der Bürgermeister, kommt direkt von einer Trauerfeier. Ein weiteres Element des Gestern, Heute und Morgen zeitgleich an diesem besonderen Ort. Er lässt es sich nicht nehmen, auf die besondere Bedeutung der alten Papierfabrik für den Ort Neu Kaliß und die landesweite Bekanntheit für gute Papierprodukte in den jeweiligen Grenzen der Zeit hinzuweisen. „Wie viele unzählige Geschichten in diesen Mauern sind, kann man nur ahnen“, betont er. Mehrere hundert Menschen hatten hier Arbeit und lebten davon. Etwa 300 ABM-Stellen gab es in den 90-er Jahren hier. Eine Unternehmensgruppe kaufte einen Teil des Betriebes und errichtete ganz in der Nähe ein neues Werk. Es ist offenbar wichtig für die Menschen im Ort, die Gebäude hier zu erhalten.

Von einem „Zipfel-Treffen“ in einem Bundesländer-übergreifenden Projekt kann Daniela Weinand erzählen. Gemeint sind strukturschwache Räume an den Rändern ihrer Bundesländer im Elbe Valley – dem einzigen Vier-Länder-Eck Deutschlands. Das besteht aus dem Altkreis Ludwigslust (heute im LK Ludwigslust-Parchim) in Mecklenburg-Vorpommern, der Prignitz im Land Brandenburg, dem Landkreis Stendal in Sachsen-Anhalt und dem Landkreis Lüchow-Dannenberg in Niedersachsen. Hier soll der nachhaltige Strukturwandel gemeinsam stattfinden und eine Region zusammenwachsen lassen. Mir fällt auf, das Ost-West oder ähnliche Befindlichkeiten heute gar keine Rolle spielen. Das sei so, sagt mir späte eine Künstlerin aus der Umgebung, weil es tatsächlich so gelebt wird. Es gibt wohl die gleichen Probleme in allen vier Zipfeln: die Landesförderung kommt nicht an. Neue Konzepte und Lösungen müssen her: „Die Stärken der Region sind die peripheren, naturnahen Lagen“, sagt Daniela Weinand vom WIR!-Bündnis Elbe Valley, einem mit bundesmitteln geförderten Projekt. „Das ist die Kreativwirtschaft, die sich hier zuhause fühlt. Das sind aber auch die klein- und mittelständischen Unternehmen, die hier für Arbeit sorgen und mit gestärkt werden sollen.“ Die Statistiken sagen, was man als Mensch, der hier lebt, sicher aus eigener Erfahrung weiß: Die Akademikerquote, die Gründungsintensität und auch die Innovationsintensität sind in urbanen Räumen ungleich größer. Dem will man „ein Stück entgegenwirken“. Man kenne sich als Akteure und nutze mit den Willigen die Chance, zusammen mehr zu erreichen für die Mobilität, das Wohnen und das Arbeiten auf dem strukturschwachen Land – nachhaltig, innovativ und resilient.

Das klingt auch etwas nach Antragslyrik, aber doch in Richtung überzeugend. Hier, an diesem Ort, will man glauben, dass jetzt die Zeit ist, das Schicksal in die eigene Hände zu nehmen und nicht weiter damit allein gelassen zu werden. In weiteren Vorträgen geht es um eine Mobilitäts-Projektidee, Regionalvermarktung und -logistik mit Stärken und Schwierigkeiten und um das Zusammenwirken von Energiekonzepten und Teilhabe in lokalen Projekten.   

Nach einer kurzen Kaffeepause bei Sonnenschein, zwischendurch hatte es auch mal kurz geregnet, werden zeitgleich in zwei Workshops Ideen gefunden und diskutiert. Dieses Format funktioniert nach meiner Erfahrung überall dort, wo Menschen mit gleichen oder ähnlichen Interessen zusammenkommen, die jeweils unterschiedliche Professionen und Passionen haben. Und wo eine gute Moderation hilft, zielorientiert zu kommunizieren. Das ist hier gegeben und so vergehen die zwei Stunden Zeit dafür wie im Flug. So kommen viele gute Ideen zusammen, die jetzt in der Fluss-Region wirken könnten – weil ihre Zeit gekommen scheint – für eine angemessenere Mobilität und das Leben und Arbeiten in der Region.

Gute Gespräche, interessante Ideen, neue und aufgefrischte Kontakte im Gepäck, verabschiede ich mich von den Organisatorinnen und den beiden Gastgebern, dankbar für diese Erfahrungen. Ich verlasse das Gelände der Alten Papierfabrik, fahre durch das Tor neben der leeren Villa, auf die unasphaltierte Seite der Straße des Friedens. Ein roter Milan zieht seine Kreise über der Fabrik. So nah habe ich ihn lange nicht gesehen.

Autor: Andreas Beck

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