Noch wurde der Turing-Test nicht bestanden

Künstliche Intelligenz (KI) kann auch den Mittelstand voranbringen – oder ihn vor sich her treiben? Ein Wirtschaftspolitisches Gespräch des AUV Neubrandenburg e. V. nimmt das Thema auf die Tagesordnung

Shit In Shit Out! Der so alte wie derbe ITler-Spruch verliert auch in Bezug auf Künstliche Intelligenz (KI), selbstlernende Systeme oder “schlaue” Rechner oder Software nicht an Bedeutung. Unsereiner würde sagen:
Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Und noch etwas akademischer und feinsinniger formuliert: Die Kenntnis der Quellen, Ziele und Transformationen von Unternehmensdaten ist eine grundlegende Voraussetzung für jede Organisation, um eine tragfähige Datenqualität für eine sinnvolle und effiziente Nutzung von KI zu erreichen.

Prof. Dr. Kurt Sandkuhl von der Universität Rostock – Inhaber des  dortigen Lehrstuhls Wirtschaftsinformatik. Fotos: Ralph Schipke

Eine praxisorientierte Einführung zum Thema KI brachte Prof. Dr. Kurt Sandkuhl von der Universität Rostock – Inhaber des  dortigen Lehrstuhls Wirtschaftsinformatik – mit zum Wirtschaftspolitischen Gespräch des Allgemeinen Unternehmensverbandes Neubrandenburg e. V. Der Rostocker KI-Experte legte dabei besonderes Augenmerk auf die Chancen für den Mittelstand, die sich aus der Nutzung von IT-Systemen ergeben könnten, die bereits “menschenähnliche, intelligente Verhaltensweisen zeigen.” (Bitkom e.V. und Deutsches Forschungszentrum für künstliche Intelligenz)

Fest steht im jeden Fall: KI ist nicht trivial und es gibt derlei Anwendungen „nicht von der Stange“.

Bislang nutzen jedoch nur vier Prozent der Mittelständler im Lande Künstliche Intelligenz in ihren Unternehmen – trotz eines enorm hohen Wertschöpfungspotenzials. Kritisch ebenfalls: Gerade mal 13 Prozent der Unternehmen verfügen überhaupt über eine Digitalisierungsstrategie. 

Wie “heiß” das Thema für die Wirtschaft und die Politik in Mecklenburg-Vorpommern ist, zeigt ein kurzer Blick in das beinahe zeitgleich mit der Veranstaltung öffentlich gewordene Entwurfspapier einer von Landes-SPD und Landes-Linker erarbeiteten “Koalitionsvereinbarung 2021-2026”.
Darin frisch zu lesen: “Wir (die neue Landesregierung | die Redaktion) wollen Innovationen fördern, den Gründergeist stärken und im Zusammenspiel mit der Wirtschaft neue Technologien auf dem Weg zur Klimaneutralität und Digitalisierung nutzen. Wir wollen Mecklenburg-Vorpommern zum Vorreiter eines innovativen, nachhaltigen, kreativen Wirtschaftens machen und damit einen Beitrag zur Bewältigung des Klimawandels und der wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen dieses Jahrzehnts leisten. Die Koalitionspartner bekennen sich zu einer integrativen Wirtschaftspolitik, die gemeinsam mit den Kammern und den Sozialpartnern die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums, des sozialen Zusammenhalts und des Klimaschutzes nicht als Gegensatz sieht, sondern die kluge Verbindung dieser Bereiche als produktive Chance.”


Um diese vielschichtigen Themen mit Unternehmern und der ganzen Gesellschaft zu besprechen, engagiert
 Prof. Dr. Kurt Sandkuhl sich neben seinem akademischen Uni-Job beim Zukunftszentrum Mecklenburg-Vorpommern (ZMV). 

Aber zurück zum Mittelstand und der KI in der Praxis. Prof. Dr. Kurt Sandkuhl fragte zuerst in die Runde der Neubrandenburger Wirtschaftslenker, Kommunalpolitiker und Behördenmitarbeiter, die der Einladung des AUV gefolgt waren, wer denn an diesem ganz normalen Wochentag bereits die Vorzüge von KI im Alltag genutzt oder sich über eine unbefriedigende Antw ort von “Siri”, “Hey Google” oder “Alexa” geärgert habe. Zwischenfazit: Fast jeder von uns nutzt ohne großes Nachdenken KI als Navigator, Such- oder Alltagshelfer.

Beispielsweise bei:

  • Spracherkennung: Sprachassistenz im Auto, Alexa, Cortana, digitale Diktiergeräte
  • Bildverarbeitung: Nummernschilder, App für Blumen‐/Baumarten/…,
  • Handschriftenerkennung: digitaler Stift, Briefsortierung
  • Texterkennung: Chatbots bei Versicherungen, Fluggesellschaften; FAQ
  • Übersetzung: Deep L, Google
  • Erkennung von Inhalten in Videos: Upload auf soziale Medien
  • Gesichtserkennung: Handy, Videoüberwachung in Firmen, Google Clips

Um nur einige der vom KI-Experten aufgezählten Beispiele zu nennen, wie jeder von uns bereits von KI-Anwendungen profitieren kann.

Jeder, der heute ein Smartphone nutzt, hat ständigen KI-Kontakt.

Aber warum ist insbesondere der Mittelstand (aber gleichermaßen auch Behörden) so oft, so zögerlich, wenn es um den konkreten Einsatz von KI geht? Strukturwandel hin zur Digitalisierung verändert tiefgreifend die Art und Weise, wie Werte generiert werden, sich Unternehmen und Handelsstrukturen entwickeln und wie miteinander kommuniziert und interagiert wird. Eine zentrale Rolle spielt genau hier die Künstliche Intelligenz als eine Schlüsseltechnologie. Unabhängig von der Branchenzugehörigkeit können KI-basierte Lösungsansätze zu Neuausrichtungen traditioneller Geschäftsmodelle führen. 

Aktuell liegt Deutschland bei der Nutzung von KI international deutlich zurück – und das trotz unseres enormen
Potenzials, etwa im Bereich Forschung oder mit Blick auf Kooperationen mit der Industrie.

Soweit die Theorie. In der Praxis bestehen hohe Hürden, die der Nutzung von KI-Lösungen in kleinen oder mittelständigen Unternehmern entgegenstehen. Noch einmal sei die Schweriner Landesregierung in spe zitiert: “Die Koalitionspartner wollen verstärkt digitale Start-Ups und damit verbundene innovative Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) sowie die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und kleinen und kleinsten Unternehmen im Land fördern, zum Beispiel durch Innovationscamps.” Und weiter: Man werde prüfen, “welche Infrastrukturen, beispielsweise im Breitbandbereich, das Land schaffen kann, um Zukunftstechnologien, insbesondere Rechenzentren, dort anzusiedeln, wo Stromüberschuss aus Erneuerbaren Energien erzeugt wird (Schwerpunkterzeugungsräume).”


Startups sind Innovationstreiber, gerade im Bereich digitaler Schlüsseltechnologien wie Künstlicher Intelligenz (KI). Entsprechend wichtig ist es für den Wirtschaftsstandort Deutschland, hier vorne mitzuspielen.
Aktuell liegt Deutschland bei der Nutzung von KI international deutlich zurück – und das trotz unseres enormen Potenzials, etwa im Bereich Forschung oder mit Blick auf Kooperationen mit der Industrie.

Mit der Studie “Startups und Künstliche Intelligenz – Innovation trifft Verantwortung” zeigen hubraum, der Tech-Inkubator der Deutschen Telekom, und der Bundesverband Deutsche Startups, wo genau die Potenziale und der USP des deutschen KI-Ökosystems liegen. Neben der Bedeutung von Daten und Ressourcen geht es dabei vor allem um das Thema Ethik und Verantwortung. Deutschland und Europa haben die Chance, sich an der Schnittstelle von Innovation und Verantwortung zum maßstabsetzenden KI-Hotspot zu entwickeln.

Studienvorstellung “Startups und Künstliche Intelligenz – Innovation trifft Verantwortung”
HIER kannst Du Dich für die digitale oder persönliche Teilnahme vor Ort anmelden.
WANN
Donnerstag, 02. Dezember 2021 | 10:00 – 11:00 Uhr mit anschließendem Networking | Einlass ab 09:30 Uhr
WO
hubraum, Winterfeldtstraße 21, 10781 Berlin oder im Live-Stream
WER
Vorgestellt und diskutiert wird die Studie von:  Axel Menneking (Leiter hubraum) | Dr. Alexander Hirschfeld (Leiter Research, Startup-Verband) | Vanessa Cann (Geschäftsführerin KI Bundesverband) 
Moderation: Prof. Dr. Jürgen Seitz (Institute for Applied AI, HdM Stuttgart)

Aber was müssen die Firmen und ihre Strategen tun, um den Sprung auf den längst fahrenden KI-Zug nicht zu verpatzen? 

Noch einmal kurz etwas “graue” Theorie. Die derzeit vor allem gebräuchliche „schwache“ Künstliche Intelligenz zielt darauf ab, Vorhersagen zu treffen und Muster zu erkennen. Sie lässt sich nutzen und wird bereits genutzt – so Professor Sandkuhl – etwa zur Qualitätskontrolle von Bauteilen oder Produkten, zur Kundenkommunikation, zur energetischen Optimierung oder der „Mechanisierung“ von monotonen Routine-Büroprozessen.

Die Liste ließe sich um Geschäftsideen von Start-Ups in Mecklenburg-Vorpommern verlängern und konkretisieren: Die Online-Rechtsberatung der Greifswalder advocado GmbH kommt zwar am Ende von menschlichen Juristen. Doch beim „Matching“ zwischen potentiellen Kunden und möglichem Rechtsbeistand ist wenigstens „schwache“ KI im Spiel.
Die Idee von Ronny Wangelin, einem “Digitalisierer” des Sports, kommt ohne intelligente Software längst nicht mehr aus. Der Gründer und Geschäftsführer der SportsZone GmbH bringt KI von der Insel Rügen aus in die Fußball-Welt.
In Rostock – berichtet der Wissenschaftler von der Uni – entwickeln digitale Tüftler Lösungen, um eher öde Büroarbeiten wie Rechnungslegung und -ablegen zu automatisieren – und bereits in naher Zukunft von intelligenten, digitalen Systemen erledigen zu lassen.
Und die  „schlauen“ Rechner von Planet IC können Schrift für andere Computer „übersetzen“ – egal ob aus alten Kirchenbüchern oder jüngeren Büroformularen, Arztrezepten beziehungsweise aus Fotos etwa mit Nummernschildern.

Für Ulrike Kolley (l.) vom Neubrandenburger Startup Djamacat gehört KI zum “täglichen Geschäft”.

Kurz ein Blick in die Zukunft sei erlaubt. Eines schönen Tages wird „starke“ Künstliche Intelligenz bei verschiedenen Aufgabenstellungen menschliche Fähigkeiten erreichen oder sogar übersteigen. Solches KI-Systeme entwickeln eigene Problemstellungen und suchen systematisch nach möglichen Lösungen. Doch das sei noch Zukunftsmusik, schränkt der Wirtschaftsinformatiker Sandkuhl ein.

Was hingegen unmittelbar auf dem Zettel von Unternehmen und Unternehmern stehen sollte, wollen die erfolgreich und gewinnbringend  KI einsetzen:

  • Unternehmenstrategie: KI muss zu den Plänen des Unternehmens, in das Geschäftsmodell und zu den Kunden passen.
  • Bereitschaft zu Veränderungen: KI wirkt sich auf betriebliche Abläufe, Strukturen, Personal aus
  • Ressourcen: KI-Software, Hardware, Dienstleister, Einführungsprozesse, Personalschulung … kosten Zeit und Geld
  • Daten: ohne die richtigen Daten von guter Qualität, ist keine KI möglich (siehe den Einstieg und “Shit In Shit Out”)
  • Fachwissen: realistische Vorstellungen zu Potentialen und Grenzen im eigenen Hause; Kompetenzen bei KI-Nutzern

Bei der Nutzung von Künstlicher Intelligenz besteht noch eine tiefe Kluft zwischen Mittelständlern und Großunternehmen. Denn die so intensive Befassung mit dem komplexen Thema überfordert gerade in kleineren Unternehmen die einsetzbaren Ressourcen. 
Um diese vielschichtigen Themen mit Unternehmern und der ganzen Gesellschaft zu besprechen, engagiert  Prof. Dr. Kurt Sandkuhl sich neben seinem akademischen Uni-Job beim Zukunftszentrum Mecklenburg-Vorpommern (ZMV). 


Das Zukunftszentrum MV

Das Regionale Zukunftszentrum Mecklenburg-Vorpommern (ZMV) verbindet Forschung und Praxis mit dem Ziel, KMU dabei zu unterstützen und zu befähigen, zukunftskritische Bedarfe zu identifizieren und geeignete Gestaltungsmaßnahmen – personell, strukturell und technologisch – zu veranlassen.


Im Fokus der Arbeit des ZMV steht, welche zukunftskritischen Themen für KMU tatsächlich relevant sind. Das ZMV will und kann Unternehmen dabei unterstützen, diese Themen zu bearbeiten. Dazu wird auf Augenhöhe und individuell beraten, gelernt und gelehrt, wie gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen zu begegnen ist. Und nicht zuletzt wird im Rahmen des ZMV mit der Praxis für die Praxis geforscht. 
Im Zuge der industriellen Revolution wurde durch die Erfindung der Dampfmaschine die Muskelkraft von der Maschine ersetzt (PS durch Watt). Durch die digitale Revolution könnte die menschliche Denkleistung durch maschinelle KI ersetzt werden. (ARD Quarks und Co: Außer Kontrolle – Wenn Computer die Macht übernehmen)

Stellt das Zukunftszentrum die richtigen Fragen an Wirtschaft, Politik und Gesellschaft?

Und wie steht es um die Risiken, die jeder neuen Technologie innewohnen, wird Prof. Dr. Kurt Sandkuhl in der Diskussionsrunde gefragt. Er selbst sieht den Punkt, an dem künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertrifft, noch in einiger Entfernung von wenigstens 30 Jahren. 
Erst dann werde die weitere Entwicklung hauptsächlich von der KI vorangetrieben und nicht mehr vom Menschen, wird vorhergesagt und davor warnen insbesondere Ethiker, Philosophen und Künstler. Der Mensch sollte vorbereitet sein.  
Sandkuhl erwähnt in diesem Zusammenhang auch den sogenannten Turing-Test. Der wurde vom britischen Logiker, Mathematiker und Informatiker Alan Turing bereits 1950 vorgeschlagen, um ein Kriterium zu bekommen, wann eine Maschine eine dem Menschen gleichwertige Intelligenz simuliert. Dabei stellt ein Mensch per Terminal beliebige Fragen an einen anderen Menschen oder eine KI, ohne dabei zu wissen, wer jeweils antwortet. Der Fragesteller muss danach entscheiden, ob es sich beim Interviewpartner um eine Maschine oder einen Menschen handelte. Ist die Maschine nicht von dem Menschen zu unterscheiden, so ist laut Turing die Maschine intelligent.
Und selbst wenn eine Maschine namens Deep Blue im Jahr 1997 über den amtierenden Schachweltmeister Gary Kasparov gewann oder Watson über den Menschen in der Quiz-Show Jeopardy, konnte bisher aber noch keine Maschine den Turing-Test zweifelsfrei bestehen…

Fazit:

Tiefgreifende Veränderungen, die KI am Arbeitsplatz mit sich bringen wird, stehen vor der Tür. Um negative Folgen der neuen Techniken auf die Gesellschaft zu vermeiden, verlange es nicht erst jetzt eine wohl durchdachte Planung. Behörden, Privatwirtschaft und Bildungswesen müssen zusammenarbeiten, um nicht nur jungen Menschen Fähigkeiten zu vermitteln, die diese in der digitalen Wirtschaft benötigen.

2021-11-11

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