Rufbereitschaft = Arbeitszeit?

Berufliche Bereitschaft kann bei erheblichen Einschränkungen komplett als Arbeitszeit betrachtet werden. Das geht aus zwei Urteilen des Europäischen Gerichtshofs hervor.

Der Gerichtshof stellt in zwei Urteilen der Großen Kammer (C-344/19 und C-580/19) klar, inwieweit Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/881 einzustufen sind.

Bereitschaftszeit sei automatisch Arbeitszeit, wenn Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz, der nicht ihre Wohnung ist, bleiben und sich dort ihrem Arbeitgeber zur Verfügung halten müssen.
Die Richter stellten außerdem klar, dass Bereitschaftszeit Arbeitszeit sei, wenn die auferlegten Einschränkungen der Bereitschaft die Möglichkeiten der Arbeitnehmer, ihre Zeit „frei zu gestalten und sich ihren eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigt sind.
Allerdings müssten neben Einschränkungen auch Erleichterungen berücksichtigt werden.

Auszug aus der Pressemitteilung des EuGH zu den entschiedenen Fällen:

„Nach diesen Klarstellungen entscheidet der Gerichtshof erstens, dass Bereitschaftszeiten, einschließlich Zeiten in Form von Rufbereitschaft, auch dann in vollem Umfang unter den Begriff „Arbeitszeit“ fallen, wenn die dem Arbeitnehmer während dieser Zeiten auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit, die Zeit, in der seine beruflichen Dienste nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.
Umgekehrt ist, wenn es keine solchen Einschränkungen gibt, nur die Zeit als „Arbeitszeit“ anzusehen, die mit der gegebenenfalls tatsächlich während solcher Bereitschaftszeiten erbrachten Arbeitsleistung verbunden ist.
Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass bei der Beurteilung, ob eine Bereitschaftszeit „Arbeitszeit“ darstellt, nur Einschränkungen berücksichtigt werden können, die dem Arbeitnehmer durch nationale Rechtsvorschriften, durch einen Tarifvertrag oder durch seinen Arbeitgeber auferlegt werden.
Dagegen sind organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers für ihn mit sich bringen kann, unerheblich. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Gebiet, das der Arbeitnehmer während einer Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft praktisch nicht verlassen kann, nur wenige Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten bietet.
Außerdem hebt der Gerichtshof hervor, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, um zu prüfen, ob eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft als „Arbeitszeit“ einzustufen ist; dies ist nämlich, wenn keine Verpflichtung besteht, am Arbeitsplatz zu bleiben, nicht automatisch der Fall. …

Erleichterungen können beispielsweise in der Bereitstellung eines Dienstfahrzeugs bestehen, mit dem von Sonderrechten gegenüber der Straßenverkehrsordnung Gebrauch gemacht werden kann. Zum anderen müssen die nationalen Gerichte die durchschnittliche Häufigkeit der von einem Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten geleisteten Einsätze berücksichtigen, sofern insoweit eine objektive Schätzung möglich ist.“

Zur Pressemitteilung des EuGH, Nr. 35/21

Die jeweils zuständigen Gerichte müssen nun in ihren Ländern in jedem Einzelfalldarüber befinden, ob eine
Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft als „Arbeitszeit“ einzustufen ist.

2021-03-12

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